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Rüdiger Jung
Seelensplitter Besprechung Seelensplitter von Ramona Linke. Gedichte. Mit Bildern und Illustrationen der Autorin. Papenberg-Verlag, Haldensleben, 2006; 82 Seiten - ISBN 3-934961-34-7
„haiku & co“ ist der dritte Teil des Lyrikdebuts von Ramona Linke überschrieben (S.68 bis 82). Er umfasst neunzehn Haiku (S.71 bis 74) und vier Tanka (S.76f.), gerahmt von Haibun: „Heimat“ (S.69f.) und „Die alte Bäckerei“ (S.77ff.). „Grille“ (S.75) und „Vogel“ (S.80) sind die bildnerischen Äquivalente ... (Chinesische Tusche, 12/2004)
Es ist eine gekonnte Poesie der leisen, aber eindringlichen Töne:
mittagssonnenschein. kaum hörbar das knistern in kiefernkronen
(S.71)
Der Hinweis „ganz leise“ bedingt geradezu die Eindringlichkeit:
im morgengrauen – der schnitter macht heu, ganz leise
(S.71)
Und die „stille“, die so genau ins Wort gesetzt wird, lässt durchaus unterschiedliche Deutungen zu:
Familiennachmittag am ende stille
(S.71)
Was hat es mit dieser „stille“ „am ende“ auf sich? Eine erste Lesart mag die ersehnte und verdiente Ruhe nach einem Tag extremen Getriebes sein. Eine zweite Lesart könnte diese Geschäftigkeit als Glück zurückersehnen. Es ist der eigentümliche Nachhall, der den Zauber dieser Art lyrischer Dichtung ausmacht:
fort die taube – noch wippt der ast
(S.72)
Zwei Haiku wird der Wortlaut der englischsprachigen Erstveröffentlichung zur Seite gestellt; zitieren möchte ich:
ein tropfen lässt den himmel sich kräuseln
a single drop makes the sky ripple
(S.72)
Ganz dem Augenblick (im doppelten Wortsinne!) hingegeben, wächst der kleinen Ursache die große Wirkung zu. Wohl der größeren Kürze und Prägnanz wegen begegnet uns ein Stück deutscher Zeitgeschichte paradoxerweise nur auf Englisch:
Sightseeing the wall today
(S.73)
An anderer Stelle ist es eine ganz eigene Dialektik von Dauer und Vergänglichkeit, die Groß und Klein die Rollen tauschen lässt:
am hünengrab – ein Spatz auf dem wächterstein
(S.74)
Einem berühmten Gedicht Chiyo-nis (1701/2 -1775), das, um eine Windenblüte zu schonen, einen Brunnen in den einstweiligen Ruhestand versetzt, verschafft Ramona Linke als Seelenschwester ein bemerkenswertes deutschsprachiges Pendant:
offengehalten das Dachfenster vom spinnennetz
(S.74)
Offensichtlich geht es hier nicht um Naturgesetze, sondern um eine Faszination. Die ihr erlegen ist muss nicht einmal Ich sagen, um uns ganz gewiss auf ihrer Seite zu haben.
veröffentlicht in „Sommergras“ Nr. 89, Juni 2010